Anders, sensibel, schüchtern, introvertiert, speziell. Dass mein Nervensystem anders funktioniert hätte viel früher klar sein können. Doch erst durch meine Kinder lernte ich, vielleicht bin ich doch neurodivergenter, als ich dachte… In diesem Artikel nehme ich dich mit auf eine persönliche Reise voller Aha-Momente, Zweifel und Erkenntnisse – darüber, wie es ist, Mutter zu sein, sich selbst zu hinterfragen und mit einem vielleicht nicht ganz ‚typischen‘ Nervensystem zu leben. Wenn du mehr Geschichten lesen oder deine eigene erzählen möchtest: ich teile dies als meinen Beitrag zur Blogparade „Neurodivergent?! Mein Mama- Alltag mit ASS /ADHS/ AuDHS“.
Dieser Beitrag ist ein sehr persönlicher Beitrag, in dem ich meine Geschichte teile, mich selbst reflektiere und dich auf eine Wanderung durch mein Nervensystem mitnehme, bei der ich betrachte, wie mein System aktuell reagiert und wie es vielleicht reagiert hat, als ich Kind oder Jugendliche war. Dies mache ich auch deshalb, weil im diagnostischen Prozess immer danach gefragt wird, ob es diese Schwierigkeiten schon immer gab. ADHS und Autismus entsteht nicht erst mit 40. Also braucht es auch das Zurückschauen, was vielleicht schon immer da war und nur nicht gesehen oder anders gewertet worden ist.
Ich werde in Zukunft versuchen weitere Beiträge zu verfassen, sowohl aus meiner persönlichen Erfahrung aber auch als Familienberaterin und Neurodivergenz und Nervensystem Coach. Wenn du also mehr erfahren willst darüber wie Nervensysteme anders funktionieren können schau gern wieder hier vorbei oder kommentiere, worüber ich für dich schreiben soll.
Ein Leben lang anders? Wie ich durch meine Kinder auf das Thema Neurodivergenz aufmerksam wurde.
Viele Jahre dachte ich: Hochsensibel – ja. Aber ansonsten neurodivergent? Nein. Mit jedem Jahr Muttersein, mit jedem Schritt, den ich meine Kinder auf ihrem Weg begleite lerne ich auch immer etwas über mich selbst. Und nun ist er da – der Satz, der vielleicht mehr verändert, als ich gedacht hätte: „Vielleicht bin ich doch neurodivergenter, als ich dachte.„
Viele werden das kennen: Der Kinder wegen beschäftigen wir uns mit Themen, die vorher keine Relevanz in unserem Leben hatten. Doch die Begleitung von Kindern, deren Nervensystem anders, intensiver, sensibler reagiert, die Begleitung von Kindern, bei denen die typischen Erziehungstipps oder Erklärungsversuche nichts bringen und das schrittweise Verstehen und Lesen lernen dessen, was diese Kinder wirklich brauchen führt irgendwann zu dem Punkt, wo wir vielleicht an der ein oder anderen Stelle merken: Moment mal, das kenne ich doch auch von mir selbst. Und je tiefer wir fachlich einsteigen und Verständnis kultivieren, umso mehr öffnet sich da ein Raum dafür, dass auch wir selbst uns vielleicht nicht so verstanden gefühlt haben, dass unsere eigenen Struggles vielleicht daher rühren könnten, dass auch unser eigenes System eigentlich etwas anders gebraucht hätte oder brauchen würde, als die neurotypische Welt eben bietet.
Muttersein: Die Achterbahn zur Selbsterkenntnis
Ja, Mutter zu werden hat mein Leben verändert. Es war das Beste, was mir passieren konnte. Und ist immer noch die Soviel wie durch meine Kinder hätte ich sonst nie über mich selbst erfahren. Einfach deshalb, weil sich das keiner je freiwillig antun würde – in dieser Intensität und Geschwindigkeit auf die emotionale Achterbahn zu steigen. Einen kleinen Menschen beim Aufwachsen begleiten heißt erstmal 7 Tage die Woche 24 Stunden klebt dieses kleine Wesen an dir. Du tust nichts außer wahrzunehmen, was es braucht und bist ständig am Co-regulieren. Mein kleines High-Need Baby hat mich soviel gelehrt darüber wie sein kleines Nervensystem funktioniert – und damit auch immer wieder, wie ähnlich mein eigenes System dem ist.
Die Auseinandersetzung damit, wie Nervensysteme funktionieren – ob im entspannten oder aktivierten Zustand, was kleine und große Menschen brauchen, damit sie sich sicher fühlen und was für Bedürfnisse hinter Verhaltensweisen stecken
Vom High Need Baby zur Hochsensibilität
Label und Schubladen mochte ich noch nie. Für mich war mein Baby perfekt. Es war normal für mich, dass es nur schlief, wenn ich es jede Nacht fünf Stunden lang auf dem Arm trug, während ich durchs Schlafzimmer wanderte. Hinsetzen? No way. Hinlegen? Ein irrwitziger Gedanke. Erst, als mein zweites Kind geboren war und ich dachte „das muss kaputt sein“, weil es sich einfach ablegen ließ, schlief, zwar stillte und Körperkontakt brauchte aber lang nicht in dieser Intensität, begann ich den Gedanken zuzulassen, dass vielleicht etwas anders als neurotypisch war. Das liegt einige Jahre zurück und es gab sehr wenig Literatur zu den Themen. Als die ersten Artikel und Bücher zur Hochsensibilität erschienen, erkannte ich darin sowohl mein Kind, das auch als Kleinkind viel intensiver auf Reize reagierte als auch mich selbst.
Von sensorischen Besonderheiten zu möglichen Diagnosen wie ASS, PDA & Co
Wer kennt es nicht: das leidige Thema mit den Socken, die nie richtig sind oder dem Stress, wenn es ums anziehen geht? Haus verlassen ohne Kleidung nicht möglich – Meltdown vorprogrammiert. Was sich lustig liest bedeutet für Eltern, die ihre Kinder da durchbegleiten eine Menge. Vor allem, weil es meist ja nur eins von mehreren Themen ist, die dann gefühlt den ganzen Alltag bestimmen und dazu führen, dass scheinbar nichts mehr möglich ist. Meine Erfahrung als betroffene Mutter und als Familienberaterin, die Eltern begleitet ist, so blöd es sich liest, es einfacher wird, wenn wir selbst nicht mehr dagegen ankämpfen. Wenn ich weiß, dass und wie das Nervensystem meines Kindes reagiert und dass es in dem Moment in großer Not ist kann ich unsere beide Überforderung und Not in dem Moment leichter anerkennen. Das Kleidungsthema hier nur exemplarisch, weil es etwas ist, was zumindest phasenweise so gut wie alle Eltern kennen. Und ich kann Mut machen. Nichts bleibt wie es ist. Nicht, weil plötzlich ein Symptom oder eine Reaktion nicht mehr existiert, sondern weil wir, während die Kinder größer werden alle kompetenter werden im Umgang damit, weil unsere Kinder kompetenter werden und so lösen Socken in der Pupertät viel viel seltener Meltdowns aus. (Vielleicht auch, weil wir gelernt haben die Kleidung, die ok ist direkt mehrfach nachzukaufen 😉 ).
Einzelne Themen wie dieses stehen für sich und machen keine Diagnose. Zusammengefasst als großes Ganzes kann das schon anders aussehen. Und je mehr ich auf dem Weg meine Kinder zu begleiten gelernt habe darüber wie das Nervensystem funktioniert, umso mehr sehe ich nicht nur, wie ihre Systeme sondern auch wie mein System an vielen Stellen „anders“ funktioniert.
Und da gibt es immer etwas, das mich antreibt, mich in der Tiefe damit auseinanderzusetzen und wirklich zu verstehen. Verhaltensweisen, die andere als schwierig oder herausfordernd beschreiben würden machen mich neugierig und öffnen mir den Weg zu einem abenteuerlichen Weg.
Hyperfokus und Aha-Momente
Ist es vielleicht auch einem Hyperfokus geschuldet, dass ich mich nicht begnüge mit einem Buch oder einer Internet-Recherche, sondern dass ich jedesmal direkt eine Fortbildung – möglichst an der Quelle des Wissens – anstrebe, um dann vier Jahre später langsam wieder aufzutauchen aus der Blase? Inzwischen würde ich mich ohne zu zögern als Nervensystem-Spezialistin bezeichnen. Immer noch sage ich zu diesem Zeitpunkt, dass Diagnosen etwas sind, das ich dabei nicht benötige. Weil ich damit arbeite, wie das Nervensystem reagiert und wenn ich lerne seine Sprache zu sprechen kann sich auch etwas verändern. In jedem Fachgebiet lernte ich Namen und Erklärungsansätze kennen, die verbildlichen, wie Nervensysteme funktionieren, die „anders“, intensiver oder sensibler reagieren.
Und dann ist er da. Der Aha Moment. Der Moment, in dem alles, was ich mir in meinem Leben so eingerichtet habe – für mich funktional – zusammenbricht. Und ich erkenne: ich bin wohl doch neurodivergenter, als ich dachte. Und noch immer heißt das nicht, dass ich mich in Diagnostik begeben muss (aber ich könnte und vielleicht kommt der Zeitpunkt, an dem ich das tun werde). Aber es scheint sehr klar, dass ich gut funktioniere, weil ich in dem Rahmen, der mir möglich war, die Gegebenheiten und Umgebung für mich so verändert habe, dass mein Nervensystem sich darin wohlfühlt und auskennt. (Ein Umstand, den Kinder übrigens nicht beeinflussen können.) Und plötzlich stehe ich auch bei mir da und sehe nicht mehr nur einzelne Puzzlestücke, die für sich genommen sind, sondern sehe ein ganzes Bild. Und ja, dazu gehört auch, dass auch ich nur gemütliche Kleidung trage. Und auch bei mir ist es nur eines und vielleicht das am einfachsten zu tragende Puzzlestück, was es zumindest erstmal auch leichter macht darüber zu schreiben als über die vielen anderen.
Neurodivergenz – was ist das eigentlich?
Jeder Mensch ist anders. Jeder Mensch ist einzigartig – und auch jedes Nervensystem funktioniert auf seine ganz eigene Weise.
Genau das beschreibt der Begriff Neurodiversität: dass es eine natürliche neurologische Vielfalt gibt – also Unterschiede darin, wie Gehirne und Nervensysteme wahrnehmen, verarbeiten und reagieren. Menschen unterscheiden sich auch darin, wie sie denken, fühlen und die Welt erleben.
Wenn von Neurodiversität gesprochen wird, geht es nicht automatisch darum, dass etwas „nicht normal“ oder behandlungsbedürftig ist – sondern darum, wie variantenreich das Leben ist.
Neurotypisch – neurodivergent
In diesem Zusammenhang wird häufig zwischen neurotypisch und neurodivergent unterschieden:
- Neurotypisch bezeichnet Menschen, deren Gehirn und Nervensystem in etwa so funktionieren, wie es der gesellschaftlichen Norm oder der gesellschaftlichen Erwartung entspricht.
- Neurodivergent beschreibt Menschen, deren neurologisches Erleben und Verhalten von dieser Norm abweichen.
Was ist normal? Diese „Norm“ ist kein festes Maß – sondern geprägt von kulturellen, gesellschaftlichen und historischen Rahmenbedingungen. Nicht überall auf der Welt ist es höflich nicht zu schmatzen, ganz im Gegenteil. Und bestimmt war es nicht so wichtig wie heute in bestimmten Kontexten, lange still und ruhig auf Stühlen sitzen zu können. Was heute als „auffällig“ gilt, konnte früher als ganz normal gelten – oder umgekehrt.
Neurodivergent: Mehr als ADHS und Autismus
Neurodivergenz ist dabei ein Sammelbegriff. Darunter fallen einige Diagnosen, aber auch Bereiche, in denen die Persönlichkeit oder das Nervensystem ebenfalls anders arbeitet und für die es aber (noch) keine einheitlichen Diagnosekriterien gibt bzw. die aktuell nicht als Störung gelten. Auch, wenn ich selbst für mich das Wort Störung nicht verwende und es durch „-struktur“ oder „Spektrum“ ersetze, meint dies letztlich auch nichts anderes als eine Abweichung von einem als normal definierten Zustand. Also eine Abweichung von Neurotypisch.
So gehören hierzu zb.
- ADHS
- Autismus
- Legasthenie
- Dyskalkulie
- Tourette-Syndrom
- Hochsensibilität
- Hochbegabung
Menschen, die neurodivergent sind, erleben die Welt oft intensiver – sie treffen auf besondere Herausfoderungen, weil die Welt eben auf neurotypische Menschen ausgelegt ist und sie bringen auch besondere Stärken mit. Und wie immer gilt so viele Menschen, wie es gibt, so viele Möglichkeiten gibt es. Kennst du eine:n Autist:in, dann kennst du genau eine:n Autist:in.
Neurodivergenz als Spektrum: Die Musik der Neurodiversität
Ich beschreibe Neurodivergenz als Spektrum und verbildliche das gern mit der Vorstellung eines alten Radiogerätes. Ich kenne so eines noch von Besuchen bei meinen Großeltern. Es war riesig und hatte eine Menge Regler, die von links nach rechts geschoben werden konnten. Wenn ich mich oder meine Kinder betrachte, dann sehe ich, dass es da viele unterschiedliche Regler gibt, jeder steht für eine Besonderheit. Einige sidn auf der linken „neurotypischen“ Seite, andere deutlich weiter mittig oder rechts auf der „neurodivergenten“ Seite. (Mein Nervensystem hat diese rechts-links Einteilung – bei dir kann und darf das ganz anders aussehen!)
Es gibt ganz unterschiedliche Regler und wenn dir das Bild hilft, kannst du in deiner Vorstellung für alles, was dir auffällt und was du beobachtest einen solchen Regler „entwerfen“.
Bei mir gibt es zb Regler für Dinge wie
- PDA (Pathological Demand Avoidance)
- Geruchsempfindlichkeit
- Kältewahrnehmung
- Geräuschsensitivität
- Impulsivität
- … und viele mehr.
Wenn du deine eigenen Regler hast probiere sie doch mal testweise zu positionieren (ich bin sehr neugierig auf deine Erfahrung, falls du sie teilen willst) – und dann beobachte!
Meine eigene Beobachtung folgend ist es nämlich so: Diese Regler sind nicht starr fixiert. Sie verändern ihre Position – nach Tagesform, Kontext, Maß der Überreizung, Lebens- oder Entwicklungsphase, uvm. Das heißt, wir haben auch innerhalb eines gewissen Rahmens Einfluss. Zum Beispiel durch das Schaffen einer guten Umgebung oder guter Umweltbedingungen, durch Selbsfürsorge und Regulation. Was beobachtest du? In welchen Bereichen ist es nicht immer gleich und wie könntest du Einfluss darauf haben?
Wir selbst sind die Expert*innen für unser Nervensystem. Und solange unsere Kinder klein sind, auch für ihres.
Welche Töne spielt mein eigenes Nervensystem: Eine Erfahrungsreise
Ich habe (bisher) keine Diagnose, deshalb hilft mir das Bild meines Radios sehr, mich besser zu verstehen und dafür zu sorgen, dass es meinem Nervensystem so gut wie möglich geht. Indem ich diese Besonderheiten berücksichtige, wo immer es mir möglich ist. Und dort, wo es mir nicht möglich ist, immer wieder ins Mitgefühl damit gehe, dass all das eigentlich viel zu viel und überwältigend für mich ist.
Wenn ich mich heute reflektiere betrachte ich vieles anders, als früher. Auch der Blick in meine Kindheit und Jugend hilft mir nicht nur mein damaliges Ich sondern auch mich heute besser zu verstehen. Ich lade dich ein ein paar meiner Regler kennenzulernen – und ich bin wieder neugierig: welche kennst du von dir? Was ist anders?
Ton 1: Geruchssensitivität
Teil meines Lebens ist es von zu vielen oder zu intensiven Gerüchen überwältigt zu sein. Klingt banal. Ist es aber nicht. Kann ich mich nicht entziehen, gerät mein Nervensystem in Not. Beispiel gefällig?
Gerüchen entkommen ist schwer
Ich habe z.B. meinen Weg zur Schule mit öffentlichen Verkehrsmitteln in Etappen unterbrochen, um Luft schnappen zu können. Zu viele unterschiedliche Gerüche sind nur unerträglich (in der Bahn trinkt der eine seinen Kaffe, der nächste isst ne Banane, die ganz harten frühstücken nen Döner und daneben benutzen sie alle unterschiedliches Duschgel, manche scheinen sich gern mit Parfum oder After Shafe zu übergießen und wieder andere kommen vielleicht grad aus der Nachtschicht und bräuchten dringend eine Dusche. Nichts davon nehme ich irgendwem übel – es ist nur einfach viel zu viel Geruch für mich auf einmal.) Mein System reagiert mit Kreislaufzusammenbrüchen und Ohnmacht, wenn ich die Situation nicht rechtzeitig verlassen kann.
Meine „spezielle“ Nase ist für viele Menschen sicher schwer zu ertragen – ich wiederum kann Menschen in meiner Nähe nur schwer ertragen, wenn sie intensiv duften (selbst, wenn ich den Duft angenehm finde – sobald es mehr als ein Hauch ist überfordert es mein System einfach).
Ich versuche mich zurückzuziehen, suche Auswege, Ausflüchte, um mein Gegenüber nicht persönlich zu beleidigen oder mich nicht in der Tiefe erklären zu müssen, die es nötig machen würde.
Superkraft Supernase?
Gleichzeitig weiß ich um die Superkraft meiner Supernase. Während meines Studiums konnte ich mehrere Tage wegen schrecklichen Gestanks nicht durch den Hausflur gehen – keiner außer mir roch etwas und alle hielten mich stattdessen für vollkommen verrückt. Es dauerte, bis das Wort „Gas“ in meinem Gehirn auftauchte (ich hatte vorher noch nie Gas gerochen und kannte den Geruch bis dahin nicht). Und selbst Vermieterin und Techniker, die ich dann alarmierte hielten mich für eine hysterische Irre und ließen sich das auch lautstark raushängen – zumindest bis zu dem Zeitpunkt, als die das kleine Leck fanden. Der Boiler wurde repariert – und der Hausflur war wieder passierbar für mich (solange kein Nachbar seltsam kochte und ich nicht ganz in der früh hindurch musste, wenn oft viel Parfumduft im Raum hing)
Kannst du auch Krankheit riechen?
ine weitere Besonderheit: ich rieche, wenn meine Kinder krank werden – Tage bevor die ersten Symptome auftauchen.
Lange dachte ich, dass kann jeder! Ich habe gelernt, das kann offenbar nicht jeder, sondern scheint eher eine Ausnahme zu sein. Ich erzähle das auch nicht, weil ich die ungläubigen Blicke kenne, die mir dann zugeworfen werden. Das ist einerseits eine Gabe – andererseits wieder eine Herausforderung, wenn meine Kinder dann krank und eben leider weiterhin krank duftend ganz ganz viel kuscheln wollen.
Ton 2: Geräuschempfindsamkeit
ich bin geräuschempfindlich – wie viele. Laute Orte, viele Stimmen, Hintergrundgeräusche. Wenn viele Menschen zusammenkommen, vor allem wenn es dazu noch Hintergrundgeräusche im Raum gibt, kann ich das nicht mehr filtern (Reizfilterschwäche) und verstehe oft nicht mehr was gesagt oder gesprochen wird.
Lautstärke lässt mein System hochfahren. Ich bekomme Herzklopfen, Beklemmungen, Angst. Unerwartete Geräusche erschrecken mich durchaus auch. Partys, Discos, größere Veranstaltungen waren, wenig überraschend, nie mein Ding. Bin ich also ein Partymuffel – oder bin ich vielleicht neurodivergent?
Kopfhörer erlaubt?!
Viel Bewunderung habe ich für mein Kind, das ganz selbstverständlich mit Nose-Cancelling-Kopfhörern durchs Leben geht: Es spürt und sorgt gut für sich. Etwas, das ich so nie gelernt habe. Stattdessen wuchs ich mit dem Gefühl auf, nicht richtig zu sein oder mich einfach mehr anstrengen zu müssen. Und so habe ich gelernt viele Situationen eher zu meiden. Doch ich lerne dazu und besitze inzwischen auch Kopfhörer – und manchmal erlaube ich mir auch schon sie aufzusetzen, wie z.B. während der Chemotherapie, wenn ich mich von den anderen Patient*innen abschirmen möchte. Es ist wirklich ein Prozess, sich auch im öffentlichen Raum zuzugestehen Dinge anders zu handhaben und für sich selbst zu sorgen.
Mit Kindern ist es nie leise. Sicherheit statt Reizüberflutung
Weil ich weiß, dass das Thema Lautstärke eines ist, das besonders viele neurodivergente Eltern beeinträchtigt bin ich froh, dass mein Nervensystem die Geräuschkulisse meiner Kinder als Signal der Sicherheit wertet. Ob sie gemeinsam ein Quietschkonzert aufführen oder lautstark streiten. Mein System hat gelernt, dass alle in Sicherheit sind, es allen gut geht, ich mir keine Sorgen machen muss und nichts schlimmes passiert ist, solange sie zu hören sind. Diese Verknüpfung und die Beruhigung dadurch ist bei mir stärker als der durch Lautstärke verursachte Streß, dessen Ebene es durchaus ebenfalls gibt. Doch solange ich selbst nicht in akuter Not bin komme ich sehr gut damit klar, indem ich ansonsten darauf achte, mein System nicht in anderen Bereichen zusätzlich zu überlasten.
Ton 3: Sensorische Besonderheiten
Viele Erkenntnisse habe ich gewonnen dadurch, dass ich meine Kinder begleitet habe, beobachtet habe, wie ihr Nervensystem reagiert und was es braucht. Durch meine Kinder habe ich auch selbst viele Dinge gelernt. Dinge, die ich mir früher nicht zugestanden hätte und bei denen ich mir nun „herausnehme“ nicht ok damit zu sein oder Situationen so zu gestalten, dass es angenehmer wird.
Wenn ich früher zu vielen Reizen ausgesetzt war und danach – ohne mir bewusst zu sein warum oder woher – schlechte Laune hatte, kann ich heute immer besser rechtzeitig (!) das Unwohlsein spüren, dass durch Überstimulierung und Stress meines Nervensystems entsteht und im Besten Fall noch darauf reagieren.
Allein die Tatsache, dass ich heute nach solchen Auslösern suchen kann bedeutet, dass ich auch etwas verändern kann. Und ja, das habe ich nur gelernt, weil ich bei meinen Kindern auf Ursachensuche gegangen bin – um Wege zu finden, was ihrem Nervensystem guttut. Und damit habe ich auch entdecken dürfen, was mein eigenes Nervensystem braucht.
Ich weiß nun, dass sensorische Reize auch auf mich Einfluss auf mich haben – auch scheinbar banale Dinge wie ein das Gefühl von Klebstoff auf der Haut, wenn ich ein Pflaster tragen muss – oder ganz klassisch: Kleidung oder Temperatur. Gemütliche Kleidung ist ein absolutes Must-have.
Ohne die langjährige Selbsterfahrung und der Tatsache, dass ich solche Themen durch meine Kinder kenne hätte ich das nicht einordnen können und wäre einfach dauerhaft gestresst gewesen. Jetzt kann ich Ursachen benennen und mit den dazugehörigen Gefühlen arbeiten. Ich habe Erklärungsansätze und nicht mehr das Gefühl, dass ich nicht ok bin, dass ich anders sein müsste, mich mehr zusammenreißen sollte – und all die Glaubenssätze, die sich da so einschleichen.
Ton 4: Soziale Kontakte und Lernen mit einem neurodivergenten Nervensystem
Ich hätte lange nicht gedacht oder gar formuliert, dass ich Probleme mit sozialen Situationen habe. Ich mag Menschen. Ich interessiere mich für ihre Geschichten, dafür, was sie antreibt, ihre Sicht auf die Welt. Ich beobachte auch gern, wie Menschen in sozialen Situationen interagieren.
Heute sage ich: Ich habe mir mein Leben lang so eingerichtet, dass ich mir aussuchen konnte, mit wem ich mich wann umgebe. Ich habe mir Settings geschaffen, die überschaubar und vorhersagbar waren. Ich gestalte soziale Begegnungen, wann immer es möglich ist so, dass mein Nervensystem möglichst entspannt damit sein kann. Dafür investiere ich durchaus Zeit und Energie.
Ich lerne gern Menschen kennen, ich bin interessiert daran, wie sie die Welt sehen, was sie bewegt und was ihnen hilft. Noch lieber beobachte ich Interaktionen zwischen Menschen. Das klingt vielleicht schon ein bißchen mehr nerdy. Und inzwischen muss ich meine sozialen Fähigkeiten durch die Erkenntnis einschränken, dass ich sehr lange schon mir Situationen und Menschen aussuchen konnte, die Setttings, in denen ich mich bewege jeweils entsprechend übersichtlich und vorhersagbar sind bzw. ich auch alles so vorbereite, dass es das ist. Ich gestalte also alles so, dass ich habe, was ich dafür brauche, damit mein Nervensystem ok damit ist. Ich wende dafür auch wirklich Zeit auf und halte meine Fäden in der Hand.
All das funktioniert besonders gut – und vielleicht auch nur, wenn Menschen mir vertraut – und damit sicher – sind. In neuen Gruppen oder mit unbekannten Menschen sieht das schon wieder ganz anders aus. Ich kann als erwachsene mehr beeinflussen, wann ich mich solchen Situationen aussetze – und auch da bleibt oft noch Handlungspsielraum.
Aufatmen durch Corona Kontaktbeschränkungen
Und so ist es nicht überraschend, dass für mein Nervensystem die Corona Zeit mit den Kontaktbeschränkungen einfach unfassbar entspannend war und ich selbstverständlich alle meine Seminare auf Online umgestellt habe. Meine Traumatherapie-Ausbildung daheim vor meinem Laptop: ein wahrer Segen. Statt einem Raum voller Geräusche und Gerüche alle stummgeschaltet im Zoom-Meeting. Um mich herum meine gewohnte Umgebung, kein Buffet, über das ich mir Gedanken machen muss, viel weniger Nachdenken über angemessene Kleidung, Sitzposition, soziale Dynamiken.
Wenn ich mit diesem Blick auch auf meine Kindheit und Jugendzeit zurückblicke sehe ich das nur bestätigt. Ich galt immer als „schüchtern“. Enge Freundinnen und vertraute Bindungen hatte ich – doch in Gruppenkonstellationen, die über diesen engen Freundeskreis hinausgingen habe ich meinem Gefühl nach nie wirklich gut „funktioniert“.
Lernen mit einem aktivieren Nervensystem – wie soll das funktionieren?
Wenn die Lehrerin in der Grundschule alle Kinder (gleichzeitig!) nach vorne rief und alle losstürmten blieb ich an meinem Platz und wartete, bis kein Gedränge und Trubel mehr herrschte. Vielleicht sind es nicht mal so sehr Gruppen, vielleicht sind es neurotypischen Gruppen, in denen kein Raum dafür ist, dass Menschen auch anders wahrnehmen oder funktionieren das Thema. Ich fühlte mich in meiner Schulzeit häufig als Aussenseiterin oder als anders. Als junge Erwachsene waren – kaum überraschend- Partys nicht meins – genauso wie gemeinsame Mittagessen mit der Abteilung. Der Gedanke genügte, um mein Nervensystem deutlich zu aktivieren und sich unwohl fühlen zu lassen.
Im Studium habe ich mehrere Semester die Hochschule bis auf Ausnahmen nicht von innen gesehen. Mein Hörsaal war mein zu Hause. Gemütlich eingekuschelt, ausgestattet mit Lernstoff und Unterlagen, lernte ich vor allem am Boden sitzend oder liegend effektiver und schneller. Vor allem fühlte ich mich wohler. Keine Menschen um mich herum. Kein Essen in der lauten Mensa. Keine anstrengenden Busfahrten zusammengequetscht bis zur Uni.
Mir war damals nicht bewusst, dass ich mich deshalb wohler fühlen konnte, weil es einfach anstrengend für mein Nervensystem ist, in so einem Setting von Lernen – wie Lernen eben stattfindet: 30 Menschen in einem Raum, auf einem ungemütlichen Stuhl sitzend. Ohne Einfluss auf die Temperatur. Dazu Unausgesprochene Kleidervorschriften, soziale Interaktionen, etc. Wie soll Lernen funktionieren, wenn dein Nervensystem damit beschäftigt ist Normen zu erfüllen, nicht aufzufallen und gleichzeitig die vielen Sinneseindrücke zu unterdrücken, die zusätzlich beeinträchtigend wirken.
Wenn ich das jetzt so klar für mich sehen kann und daran denke, wie viele Eltern und Kinder jeden Tag genau an so einem System verzweifeln – das nicht genügend Raum lässt dafür, dass die Nervensysteme, die sich gezwungenermaßen da einsortieren irgendwie nicht völlig untergehen müssen, fehlen mir die Worte. Alle Eltern, die ihre Kinder da jeden Tag hindurch begleiten verdienen meine uneingeschränkte Bewunderung und meinen Respekt.
Social Hangover
Wieder etwas, das ich von meinen Kindern gelernt habe. Sie sagen mir sehr deutlich, wenn sie keine Termine mehr haben wollen. Sie spüren, wenn ihnen etwas – auch, wenn es schön war – zu viel war und sie eine Pause brauchen.
Wenn ich daran denke, dass ich als Jugendliche und junge Erwachsene nach sozialen Zusammenkünften oft tagelang schlechte Laune hatte oder mich körperlich krank fühlte, ist Social Hangover wohl das, was mein Erleben gut beschreibt. Die Erschöpfung auf zu viele oder zu intensive soziale Erlebnisse, die mit mit vielen Eindrücken verbunden sind.
Er beschreibt auch, was ich bei meinen Kindern beobachten konnte, als sie noch zu klein waren, um selbst spüren und verbalisieren zu können, was da gerade vor sich geht. Es dauerte einige Zeit, bis ich die Zusammenhänge erkannte – doch dann waren die Pausen, die ich uns verordnete das, was uns gerettet hat. Bis dahin hieß Besuch von befreundeten Kindern, dass mein Kind danach 2 Tage lang „total drüber“ war. Weinen, Schreien, mit Worten nicht mehr erreichbar. Andere hätten gesagt, es ist bockig und braucht Grenzen. Ich erkannte, Etwas war zuviel. Also begann ich die Situationen zu verändern, zeitlich zu begrenzen, Orte zu wählen, die mehr Rückzug ermöglichten und die Tage danach keine weiteren Termine zu legen.
Das kann sich so anfühlen, als würden unsere Kinder uns die Möglichkeit rauben, unser Leben zu leben. Weil wir eben einplanen und mitdenken müssen, dass wir für Unternehmungen einen Preis bezahlen. Es fühlt sich vielleicht so an, als würde damit erstmal weniger möglich und unsere Welt kleiner werden. Und vielleicht wird sie das auch. Gleichzeitig wird sie soviel größer, wenn die großen Meltdowns danach und die Tage voller Kämpfe, Verzweiflung und Tränen einfach einem geruhsameren Miteinander weichen.
Und vielleicht geht es manchen auch wie mir.ich merkte, wie es nicht nur meinem Kind, sondern auch meinem eigenen Nervensystem unheimlich gut tat uns diese Pausen „zu gönnen“. Seitdem denke ich nach, was und wieviel ok ist und plane sehr genau. Diese Erkenntnis war ein absoluter Gamechanger!
Weshalb es nun schwierig für mich wird: Diagnose Brustkrebs – in einer neuroytpischen Welt.
Ein Punkt, an dem ich meine eigene Neurodivergenz so deutlich wie nie nun als gegeben akzeptiere – weil ich nun, frisch Brustkrebs diagnostiziert (soziale Situationen) von Termin zu Termin gejagt werde, ständig in Wartezimmern mit Menschen sitze, die sich unterhalten wollen oder mir in Behandlungsräumen Monologe von Ärzten anhöre, die mir meine eigene Erfahrung absprechen und spüre, wie sehr mich das alles erschöpft, wie viel Masking notwendig ist und wie sehr mein Wohlbefinden davon abhängt, solche Situationen eigentlich möglichst vermeiden zu können. In einem meiner nächsten Beiträge möchte ich deshalb darüber schreiben, wie im medizinischen Kontext Neurodivergenz nicht mitgedacht wird, wie wenig Wissen es über paradoxe Reaktionen auf Medikamente gibt (mit denen ich auch Erfahrung machen durfte) und wie eng Trauma und autistischer Burnout damit verknüpft sein können.
Welcher Rahmen (welche Diagnose) passt nun zu mir?
Doch wie sieht es nun aus? Bin ich wirklich neurodivergenter als ich dachte? Augenblicklich füge ich jedenfalls immer neue Puzzlestücke zusammen und gewinne damit ein immer größer werdendes Bild. In welchen Rahmen das nun passt – oder ob es vielleicht sogar in mehrere Rahmen passen wird? Ob ich überhaupt einen Rahmen (sprich Diagnostik) darum setzen möchte?
Wo sehe ich mich persönlich aktuell – unabhängig von einer Diagnostik, die noch nicht stattgefunden hat? Außer die Hochsensibilität, die ich mir schon lange zugestehe, ist das wohl das Autismus Spektrum mit PDA Ausprägung. Zumindest einige meiner Radio-Regler würden dafür sprechen. Meine Erkenntnis-Reise ist aber nicht zu Ende. Letztlich dürfen wir alle uns lebenslang und immer wieder neu kennenlernen und entdecken. Und mit jedem dazulernen erfahren wir auch, was wir (stattdessen) brauchen, was uns gut tut und wie wir möglichst gut für uns selbst sorgen können.
Was mir bis hierhin geholfen hat
Die wichtigsten Schritte für mich auf meinem bisherigen Weg waren besonders ein sehr radikales Selbstwertgefühl oder die Entdeckung der Liebe zu mir selbst – ich bin gut und richtig genauso wie ich bin. Dieses Gefühl trägt mich seit ich Mitte 20 bin durch mein Leben und hilft mir nachsichtig und mitfühlend mit mir selbst zu sein. Dorthin zu gelangen war ein eigener und nicht gerade leichter Weg. Viel zu lang lief ich mit dem Gefühl, nicht gut und nicht richtig zu sein herum. Diese internalisierten Stimmen aus meiner Kindheit abzulegen und mich so anzunehmen, mehr noch, mich zu mögen, so wie ich bin – war der wichtigste Schritt, den ich gehen konnte. Ich bin meiner Philosophie Lehrerin, die diesen Weg mit verursacht hat bis heute aus tiefstem Herzen dankbar.
ich weiß, dass dies ein Grundgefühl von vielen Menschen ist – nicht richtig zu sein, sich wie auf dem falschen Planeten oder in der falschen Familie zu fühlen, anders, nicht gut genug. Es verursacht soviel Leid und verhindert auch, dass wir lernen mit dem umzugehen, was uns so mitgegeben ist, was wir brauchen würden. Weil ich viel mit Müttern gearbeitet habe in den letzten 17 Jahren weiß ich, wieviel Leid dadurch auch entsteht und wie gut es tut, wenn sich da ein klein wenig verändern darf. Manchen hilft auch der Weg der Diagnostik, um sich selbst mehr annehmen zu können. Was immer dir hilft, ist gut und richtig für dich.
Mein Weg führt mich erst jetzt Richtung Neurodivergenz. Wobei es vielen da ähnlich geht. Mit jedem Dazulernen, mit jedem Kennenlernen und auch mit allen Struggles, die mir begegnen entdecke ich mich offenbar einfach wieder ein Stück mehr. So, wie mir jetzt sehr klar vor Augen geführt wird, wie anstrengend die vielen sozialen Situationen im medizinischen Setting für mich sind und wie ich jedesmal in einem Freeze Zustand oder im Flight Modus oder einfach totaler Erschöpfung danach ende. Bislang haben Erkenntnisse mir geholfen, mein Leben aktiv gestalten zu können. Und so hoffe ich, dass mich diese Fähigkeit auch weiter tragen wird und ich irgendwann nur auf die schwere Zeit jetzt zurückblicken kann, wissend, dass ich gesund und im besten Fall gestärkt herausgegangen bin.
Mit der Nervensystem- & Neurodivergenz Brille durchs Familienleben
Doch was ist nun mit meinem Familienleben? Als Mutter begleite ich seit bald 15 Jahren drei junge Nervensysteme, bei denen wiederum jedes seine eigene Musik spielt. Mindestens zwei von ihnen haben – nicht überraschend – mehrere Regler in Richtung Neurodivergenz ausgerichtet. Die Begleitung hat mich so viel lernen und verstehen lassen, was bis dahin nur Theorie gewesen ist.
Einer meiner Antriebe ist die Neugier, wie Menschen, ihre Nervensysteme und Beziehungen funktionieren. Diese Neugier hilft mir bei meinen Kindern hinzuschauen, nicht persönlich betroffen zu sein, sondern sie mit all dem was da gerade ist einfach zu sehen. Es ist einerseits oft leichter so wohlwollend auf unsere Kinder zu blicken und schwieriger auf uns selbst. Andererseits klingt das auch irgendwie romantisiert – ist es aber nicht. Es ist nämlich nicht wirklich Gabe oder nur ein Interesse, es ist auch immer wieder harte Arbeit. Immer wieder ruhig zu bleiben, Gefühle von Verletztheit, die schnell aufkommen können, wenn Kinder uns in ihrer ganzen Wucht entgegenschmettern, wie es ihnen geht wahrzunehmen, gut zu versorgen und nicht drauf einzusteigen und stattdessen immer wieder in die Einfühlung zu gehen und die Nervensystem-Brille aufzusetzen, um herauszufinden, was das kleine System vor mir gerade braucht und was davor alles zuviel gewesen sein könnte. Das ist nicht romantisch. Es ist manchmal zum Verzweifeln. Und: es lohnt sich so sehr. Für unsere Kinder, uns selbst und die Beziehung zueinander. Ein besseres Geschenk konnte mir nicht gegeben werden – fast jede schwierige Situation mit meinen Kindern, die ich erlebt habe, hat mich im Nachhinein betrachtet wachsen lassen und mir geholfen sie besser zu verstehen. Es ist leichter sowas zu schreiben, wenn man nicht mittendrin sitzt in einer auswegslos und niemals zu enden scheinenden Situation.
In all den Jahren, die ich nun meine eigenen Kinder begleite – und in den zehn Jahren, die ich als Familienberaterin Eltern begleite, die an ihre Grenzen kommen und verzweifelt sind habe ich gelernt, dass nichts so wichtig ist, wie dass wir als allererstes lernen selbst gut für uns zu sorgen und unsere eigenen Themen zu kennen. Ich sage das voller Überzeugung, dass Selbstfürsorge nicht „the thing“ ist, was Eltern brauchen. Weil das zu oft eine zusätzliche Aufgabe ist, die bedeuten würde, das etwas anderes hinten runter fällt und wir dafür dann den Preis zahlen. Es geht also nicht um eine gute Morgenroutine oder regelmässige Meditationen. Gut für uns selbst sorgen fängt für mich dort an, wo wir beginnen uns selbst zu verstehen – und die Weichen, die wir können zu stellen, dass es uns so gut wie möglich geht.
Zu wissen und immer besser zu verstehen, wie mein eigenes Nervensystem funktioniert, welche Triggerpunkte es vielleicht gibt, wann es schwierig für mich wird aber auch, was mir in der Vergangenheit schon mal geholfen hat.
All das trägt dazu bei, stückchenweise dorthin zu gelangen, wo Familienleben auch leicht sein darf. Dort, wo Eltern reguliert bleiben, sich nicht ärgern, schimpfen oder schreien müssen. Dort, wo sie abends in den Spiegel schauen und sich nicht schämen, weil sie sich für die schlechteste Mutter oder den schlimmsten Vater auf der Welt halten.
Dabei ist diese Welt eine, die Familien allein lässt. Unser System funktioniert auf dem Rücken von Eltern – auf ihrer Sorgearbeit. Eltern, die ein neurodivergentes Kind begleiten und oder selbst neurodivergent sind, stoßen unweigerlich an ihre eigenen und weitere Grenzen. Nämlich die einer neurotypischen Welt, die sie nicht mitdenkt. Umso wichtiger das klar zu benennen – es ist nicht ein persönliches Versagen, es ist das Versagen einer ganzen Gesellschaft und es ist Zeit, dass wir Neurodivergenz sichtbar werden lassen.
Mit diesem Artikel möchte ich dazu beitragen, ein Stück Sichtbarkeit für Betroffene zu generieren. Ich bin gespannt auf deine Geschichte. Wenn du magst teile sie in einem Blogartikel und/ oder hinterlasse mir einen Kommentar. Ich freue mich darauf dich zu lesen!
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