Ständig online? Immer erreichbar? Nur kurz die Nachrichten checken? Nur schnell Pause machen und einen Moment durch Insta oder TikTok scrollen? Wieviel digitales Leben tut uns wirklich gut? Was ist zu viel? Was, wenn Informationsflut, ständige Erreichbarkeit und Social Media uns nicht mehr abschalten lassen? Wie kann ein „gesunder“ Umgang aussehen? In diesem Beitrag, der im Rahmen der Blogparade zur digitalen Achtsamkeit entstanden ist, lade ich dich ein hinzuschauen, was dein Nervensystem zu sagen hat und wie wir Wege aus der Überforderung zurück in ein Gefühl von Sicherheit und Verbundenheit mit uns selbst finden können.
Fluch und Segen der digitalen Medien
Digitale Medien sind Fluch und Segen zugleich. Sie verbinden uns mit der Welt und ermöglichen es uns an Wissen und Informationen zu gelangen. Wer, wie ich noch Bücher zur Recherche für die Diplomarbeit quer durchs Land bestellen (und auf sie warten!) musste, schätzt diese Möglichkeit sicher ebenso sehr wie ich. Das Problem dabei: Wir bekommen auch Informationen und Angebote, wenn wir nicht aktiv nach ihnen gefragt haben. Einmal die Nachrichten-App installiert piept das Handy und der Blick auf dem Bildschirm zeigt uns eine neue push-Nachricht. Unterwegs auf Social Media oder in Messenger-Gruppen? Eine Flut an Informationen überschüttet uns geradezu.
Die Flut an Daten ist das eine – die Frequenz, mit der wir mit ihnen konfrontiert werden das andere. Pausenlos erreichen uns emails, push- und whatsapp Nachrichten. Einmal kurz durch Social Media scrollen oder einem Link folgen und ein ganzes Universum voller Beiträge öffnet sich vor uns. Einmal kurz scrollen durch TikTok scrollen und Co für den schnellen Dopamin Kick? Schnell ist der Punkt erreicht, wo wir uns nicht dafür entscheiden etwas zu lesen oder anzusehen, sondern hineingesogen werden in einen sich immer weiter drehenden und uns immer mehr und weitere Beiträge ausspuckenden Strudel. Denn die Plattformen setzen auf ein System, das unser Belohnungszentrum im Gehirn aktiviert, um die Verweildauer ihrer Konsumenten – also von uns – zu erhöhen. Kein Wunder also, wenn wir nicht nur das Gefühl für die Zeit, sondern auch für uns selbst verlieren.
Immer häufiger wird die Frage gestellt, ob die Nutzung digitaler Medien psychische Krankheiten verursachen kann oder diese verstärkt. Ein direkter Zusammenhang zwischen Depressionen und der Nutzung digitaler Medien konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Gleichzeitig ist klar, dass die Nutzung digitaler Medien und Social Media Wirkung auf uns hat. Und nicht nur Gute. Das gibt es auch, ohne Frage. Einige meiner besten Freundinnen hätte ich ohne Social Media nie kennengelernt. Und wer an die Corona Zeit denkt, sieht auch, wie Kaffeekränzchen und Spieleabende mithilfe von digitalen Medien stattfanden. In einer Zeit, in der so viele Menschen einsam sind ist es ein Geschenk, wenn die Möglichkeit für Verbindung besteht. Digitale Medien können Menschen verbinden und Gefühle von Isolation und Einsamkeit lindern. Gleichzeitig, wie immer überall dort, wo Menschen verletzlich sind, liegt auch an dieser Stelle eine Gefahr. Und so müssen wir uns mit den Schattenseiten dieser Möglichkeiten genauso auseinandersetzen und lernen uns und unsere Kinder zu schützen. Stichworte wie Cybermgrooming oder Mobbing – eine Welt, die zunehmend digital und unübersichtlich wird verlangt, dass wir noch bewusster und umsichtiger mit ihr umgehen.
Die Frage, wie Social Media unser Körperbild verändert ist ebenfalls eine, die wir uns dringend stellen sollten.
Sicherheit in einer unsicheren Welt?
Die ständige Erreichbarkeit und die Flut an Daten und informationen kann nicht nur zu Überforderung, Stress und verstärkten Sorgen führen. In einer Welt, in der Krise das normale Normal ist kann dies besonders belastend sein und Ängste wecken. Ob Pandemie, Krieg oder der weltweite Rechtsruck – unser Nervensystem reagiert auf diese Bedrohungen unmittelbar. Wir fühlen uns weniger sicher in und mit der Welt.
Wie können wir wieder Sicherheit finden in einer Welt, die uns zunehmend unsicher und unberechenbar erscheint?
Schauen wir uns kurz an, was in unserem Nervensystem passiert um zu verstehen, was es brauchen könnte. Unser Nervensystem nimmt Reize wahr und verarbeitet sie. Die Kapazität, mit der ein Nervensystem ausgestattet ist – also, wieviel es verträgt und ab wann etwas zuviel ist, ist dabei unterschiedlich. Jeder von uns wird schon mit einem Nervensytem geboren, das unterschiedlich intensiv z.B. auf Streß oder Reize reagiert. Neurodivergente Menschen nehmen Reize viel intensiver wahr, was schneller zu Gefühlen von Überforderung führen kann. Wenn Trauma im Hintergrund steht, verkleinert sich ebenfalls der Spielraum, den unser System hat, um mit Informationen umgehen zu können. Doch bei der Geschwindigkeit und der Präsenz, mit der digitale Informationen uns heute erreichen, wird nahezu jedes System früher oder später mindestens zeitweise überfordert sein.
Auch, wenn wir nicht in akuter Gefahr sind kann unser Nervensystem dies so interpretieren und in einen Alarmzustand gehen. Wer sich selbst gut beobachtet merkt vielleicht, wie Herzschlag und Muskulatur auf das Piepsen des Handys reagiert, das eine neue Nachricht anzeigt. Schlagzeilen und Push-Nachrichten können den Teil unseres Nervensystems, der für Kampf und Flucht zuständig ist, aktivieren. Doch nicht nur schlechte Nachrichten – auch das Scrollen durch Social Media können das bewirken. Wer beginnt seine Welt mit der von Social Media zu vergleichen erlebt vielleicht das Gefühl von Unzulänglichkeit, Weil unsere Realität einfach nicht an die künstlich generierte heranreichen kann.
Wenn wir keine bewusste Pausen machen, können wir uns zunehmend erschöpft oder innerlich getrieben fühlen. Besonders Menschen, die vulnerabel auf Reize reagieren, weil ihr System sensibler reagiert oder die ohnehin belastet sind können in dem Kreislauf verloren gehen, wenn sie keine bewussten Pausen einlegen, um sich zu erholen und zu regulieren.
Digitale Achtsamkeit statt Digital Detox
Bewusste Pausen einlegen muss nicht bedeuten das Handy wegzuwerfen und zukünftig im Wald zu leben. Das Schlagwort Digital Detox, das „digitale Entgiften“ meint für eine bestimmte Zeit auf digitale Medien, meist auf die Handynutzung zu verzichten oder sie einzuschränken.
Forschung, die die Wirksamkeit belegt, gibt es bislang nicht und so gibt es unterschiedliche Einschätzungen und Empfehlungen zu diesem Thema. Besonders Menschen, die schnell überreizt sind oder unter FOMO (feat of missing out), also dem Gefühl etwas zu verpassen, profitieren davon, wenn sie ihr Handy zeit- und phasenweise abschalten. Und so unterschiedlich wie Menschen sind, welche Grundbedingungen und Möglichkeiten sie haben, so unterschiedlich ist das Erleben. Schaut man sich die Berichte an profitieren besonders die Menschen, die in dieser Zeit ein lebendiges Leben in der realen Welt führen, Hobbys nachgehen und soziale Kontakte pflegen können. Menschen, die aus gesundheitlichen oder altersgründen diese Möglichkeit nicht haben, werden die Zeit ohne Medien anders erleben. Insgesamt heißt dies wohl es fallen negative Erfahrungen, die am Smartphone gemacht werden weg – die positiven bleiben jedoch auch aus.
Statt also digitiale Medien zu verbannen geht es darum sich dessen bewusst zu sein, wie wir sie nutzen und wie sie auf uns wirken. Einen achtsamen Umgang zu etablieren, der es uns erlaubt wahrzunehmen, was uns gut tut und was uns nicht gut tut.
Wenn wir verstehen, wie unser Nervensystem funktioniert und beobachten, wie es auf unterschiedliche Nutzung reagiert können wir es dabei unterstützen immer wieder zu einem regulierten Zustand zurückzufinden. Kleine Veränderungen in unseren Alltag- und Nutzungsverhalten können da schon große Wirkung haben und uns dabei helfen mit der digitalen Welt so umzugehen, dass sie uns unterstützt und nicht überflutet oder mitreißt.
Im folgenden findest du einige Möglichkeiten, wie du das gestalten kannst. Da jedes Nervensystem einzigartig ist gibt es keinen „5 Schritte Plan zum Erfolg“, der für jeden gleich wirksam und sinnvoll ist. Bleib neugierig und beobachte, was dir davon gut tut und was nicht.
Wohltuende Routinen statt Automatismen
Vielleicht kennst du den gedankenverlorenen Griff und Blick aufs Handy – ohne spezifischen Anlass, der einfach zwischendurch passiert. Vielleicht geht am Morgen nach dem Aufwachen dein erster Griff ans Handy – oder du scrollst am Abend im Bett noch ewig durch Social Media?
Probiere aus, ob ein bewusster Start in den Morgen oder ein Abendritual ohne Handy dein Erleben verändern. Sei nachsichtig mit dir, wenn du merkst, dass das Handy doch in deiner Hand gelandet ist und erinnere dich immer wieder daran, dass du eine handyfreie Morgenroutine etablieren möchtest. Wie lange die dauert ist dir überlassen. Die ersten Minuten des Tages dürfen dir gehören. Vielleicht hilft es dir wahrzunehmen, wie du dich fühlst oder was du heute alles tun möchtest. Vielleicht schenkst du dir ein paar Minuten, vielleicht erweiterst du den Zeitraum bis nach dem Frühstück. Beobachte, was dieser handyfreie Raum mit dir macht. Wenn du merkst, dass du anfangs nervös reagierst oder eine innere Unruhe wahrnimmst, dann beobachte sie. Bleibt sie die ganze Zeit bestehen oder beruhigt sie sich wieder? Was nimmst du noch wahr? Wir sind es gewohnt unsere Gedanken und unsere Aufmerksamkeit mit Reizen zu füllen -bleibt die aus, kann sich das erstmal ungewohnt anfühlen.
Gönne dir ein paar Minuten des Tages, in denen du bewusst bei dir ankommst. 10 Minuten oder einige Atemzüge, die nur dir gehören.
Bewusste Entscheidungen treffen
Gewöhne dir an, dich für die Nutzung digitaler Inhalte bewusst zu entscheiden. Achtsamkeit und Bewusstheit ist das Antidot zu einem Zustand, in dem wir scheinbar die Kontrolle verlieren und uns nur noch passiv berieseln lassen oder in den Sog von Nachrichten hineingezogen werden und keinen Ausstieg mehr finden. Sage also bewusst „ja“ und „nein“ und beobachte, was sich allein dadurch in deinem Erleben deiner Handynutzung verändert.
Bevor du das Handy zur Hand nimmst frage dich: was möchte ich gerade tun? Vielleicht auch: Welches Bedürfnis versuche ich mir gerade zu erfüllen? Bevor du etwas liest oder reagierst überlege dir: möchte ich gerade wirklich das 3.mal an diesem Tag meine Nachrichten checken oder schauen, ob es eine neue Meldung gibt? Nimmt wahr, ob es dir wirklich gut tut oder ob dein System eher aus Stress oder innerer Getriebenheit heraus handelt.
Merkst du auf diesem Weg der achtsameren Nutzung, dass dir manche Apps oder Nachrichten nicht gut tun dann darfst du weniger davon konsumieren. Ordne die Startseite deines Bildschirms so an, dass du dort Inhalte findest, die dich unterstützen und verbanne stressauslösende Apps weiter nach hinten. Schalte die Benachrichtigungsfunktion für Push Nachrichten aus und übe dich daran nicht ständig zu checken, ob etwas Neues eingegangen ist. Du darfst entscheiden, wann und was du konsumieren möchtest!
Pausen für das echte Leben und für dein Nervensystem
Entscheide dich auch bewusst Pausen einzulegen. Zum Beispiel immer dann, wenn du mit anderen Menschen sprichst, wenn du mit deinen Kindern spielst, wenn du in der Natur unterwegs bist oder beim Essen oder Zubett gehen. Wer alles durch die Linse eines Handys sieht verpasst es den Moment wirklich zu spüren. So verführerisch es auch ist während der x-ten Partie von „Tempo kleine Schnecke“ zum Handy zu greifen: Entscheidest du dich für Kontakt oder Spielen mit deinem Kind dann schenke euch beiden diese Zeit. Ist das Handy dagegen deine Pause vom hektischen Familienalltag – dann stehe dazu und nimm dir bewusst Zeit, in der du nicht ansprechbar und zuständig bist. Kommuniziere das den Menschen um dich herum. „Ich will jetzt gerade nicht spielen, ich nehme mir 10 Minuten Pause.“ Halb in der einen und halb in der anderen Welt wirst du weder Erholung erfahren noch können dein Kind und du in Kontakt miteinander kommen. Ist dein Handy nicht deine Pause, sondern deine Flucht – dann nimm auch das wahr. Dein System sucht sich seine Auswege, wenn es sie nicht anders bekommt und überlege, wie du vielleicht stattdessen deine Pausen gern gestalten würdest und vor allem, wie du sie bekommen kannst.
Erlaube deinem Nervensysten kleine Momente der Stille zu erfahren – Momente, in denen es nicht mit Reizen geflutet wird, sondern Pause bekommt, um zu spüren, wie es ihm gerade geht und ihm zu erlauben zur Ruhe zu kommen.
Selbstwahrnehmung stärken
Schärfe deine Selbstbeoachtung. Jedesmal bevor du zum Handy greifst kannst du einen kurzen Check-in durchführen und wahrnehmen, wie du dich gerade fühlst und was du wahrnehmen kannst. Wenn deine innere Beobachterin etabliert genug ist kann sie dir auch während du soziale Medien nutzt mittracken, was sich gerade verändert – und wie es dir danach geht. Merkst du, dass du den Kontakt zu dir verlierst? Fühlst du dich angespannter oder leer vor, während oder nach der Handynutzung? Gibt es Inhalte oder Apps, bei denen dies besonders ausgeprägt ist? Wann ist es anders?
Vielleicht hilft dir auch eine Art Tagebuch zu führen.
- was habe ich heute alles an digitalen Inhalten konsumiert?
- was habe ich durch die Nutzung eines Handys positives erlebt? Was habe ich gelesen, was mich glücklich gemacht oder gefreut hat?
Uns bewusst zu machen, was und wieviel wir konsumieren hilft uns einen Überblick zu bekommen und unbewusste Nutzung zu minimieren. Erinnerst du dich nicht mehr daran, welche Inhalte dir heute begegnet sind ist es tendenziell zuviel gewesen. Legst du den Fokus darauf zu reflektieren, welche Inhalte dir gut getan haben, was dir Freude oder einem Moment des Glücks beschert hat, beobachtest du, was dir eher gut tut und was dich stärken kann und was nicht.
Indem du lernst achtsam zu beobachten, was in dir passiert kannst du beginnen deine Mediennutzung so zu verändern, dass es passender und angenehmer für dich ist. Spüre, was dir wirklich gut tut und was nicht. Kleine achtsame Veränderungen können schon hilfreich sein.
Fazit
Digitale Medien sind das Problem. Es geht darum einen bewussten Umgang mit ihnen zu finden. Wieder zu spüren, was uns gut tut und wo wir unbewusst agieren, uns berieseln lassen oder in einen Sog von Informationen geraten, aus dem wir nicht wieder herauskommen. Ditigtale Achtsamkeit heißt nicht, auf alles zu verzichten, sondern mitzukriegen, was passiert und wo wir agieren ohne uns bewusst dafür entschieden zu haben. Lernst du dir selbst wieder zuzuhören, dein Nervensystem zu lesen und zu verstehen, wann und was ok ist und wann oder was etwas zuviel ist, findest du leichter wieder zu mehr Kontakt mit dir und anderen, zu mehr Klarheit über deine Grenzen und Bedürfnisse und zu mehr Regulation deines inneren Systems. Dabei gibt es kein Ziel – jeder Tag ist anders. Wir leben jeden Tag mit digitalen Medien und wir dürfen jeden Tag neu entscheiden, was heute der richtige Weg für uns ist. Ich wünsche dir viele gute Momente und bin neugierig darauf, was für Erfahrungen du machst. Wenn du möchtest, kommentiere und teile sie mit mir.
Liebe Tamara, die Einordnung des Themas im Rahmen von „Nervensystem und Stressreduktion“ liest sich sehr spannend, vielen Dank dafür! Liebe Grüße, Astrid